Genügende Entschuldigung bei Krankheit

Zunächst das Wichtigste:

In einem von Rechtsanwalt Markus Lehmann vertretenen Fall hat das Oberlandesgericht Stuttgart nochmals festgestellt, dass es für die Beurteilung, ob das Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung genügend entschuldigt ist, nicht darauf ankommt, ob sich die Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob sein Ausbleiben genügend entschuldigt ist und insoweit ausgeführt, dass im Falle einer Krankheit eine Entschuldigung dann genügt, wenn sie nach Art und Auswirkung eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht. Bleiben nicht behebbare Zweifel am Vorliegen eines unentschuldigten Ausbleibens darf sich dies aber nicht zulasten des Angeklagten auswirken bzw. darf ein in die Freiheit eingreifendes Zwangsmittel nicht angeordnet werden bzw. aufrechterhalten bleiben.

 

Im konkreten Fall blieb der Angeklagte aufgrund einer tags zuvor diagnostizierten gastroenteritischen Durchfallerkrankung mit entzündlicher Begleitarthritis fern. Das Berufungsgericht ließ daraufhin an Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO. Den Haftbefehl hob das Oberlandesgericht Stuttgart als Beschwerdegericht mit lesenswerter Entscheidung auf.

 

OLG Stuttgart, Beschluss vom 7. Juni 2017 – 4 Ws 23e/17

 

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Landgerichts Ravensburg vom 8. Mai 2017 aufgehoben. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

 

Gründe:

Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Biberach an der Riß vom 17. Januar 2017 we­gen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Gegen das Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch zuungunsten des Angeklagten die Staatsanwalt­schaft Berufung eingelegt.

Mit Verfügung vom 24. März 2017 wurde durch das Landgericht Ravensburg Termin zur Haupt­verhandlung auf den 8. Mai 2017 bestimmt und mit Beschluss vom gleichen Tag das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet. Ausweislich der Zustellungsurkunde wurden die Ladung sowie der Beschluss dem Angeklagten am 1. April 2017 zugestellt.

Zum Termin am 8. Mai 2017 erschien der Angeklagte nicht. Zu Beginn der Sitzung legte sein be­vollmächtigter Verteidiger eine für den Angeklagten ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 7. Mai bis 13. Mai 2017, welche der Angeklagte seinem Verteidiger per E-Mail hatte zukommen lassen, vor. Die Bescheinigung war am 7. Mai 2017 durch den Bereit­schaftsdienstarzt der „Anlaufpraxis", Dr. H, ausgestellt wor­den. Des Weiteren erklärte der Verteidiger, dass der Angeklagte dazu vermerkt habe, er habe die „Scheißerei".

Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung konnte der Vorsitzende aufklären, dass sich der An­geklagte für seinen Arbeitgeber auf Montageeinsatz im Raum Itzehoe befand; dem dortigen Bau­leiter seines Arbeitgebers war der Gerichtstermin nicht bekannt. Der die Bescheinigung ausstel­lende Arzt konnte nicht erreicht werden. Nachdem die dortige Polizei den Angeklagten in einem Hotelzimmer hatte antreffen können, meldete sich der Angeklagte telefonisch auf der Geschäfts­stelle und teilte unter anderem mit, dass er sich weiterhin im Hotelzimmer aufhalte und unter sei­ner Mobilfunknummer für das Gericht erreichbar sei. Gegenüber der Polizei hatte er angegeben, an akutem Durchfall zu leiden und krankgeschrieben zu sein. Aufgrund seines Zustands habe er keine Möglichkeit gesehen, den Gerichtstermin wahrzunehmen. Im Rahmen eines Telefonats mit demVorsitzenden gab der Angeklagte unter anderem an, dass er am Vortag Anzeichen der Er­krankung verspürt habe und deshalb am Nachmittag zum Arzt gegangen sei. Er habe die Pla­nung gehabt, am Sonntagvormittag anzureisen und am Montag bei der Hauptverhandlung zu sein.

Das Landgericht Ravensburg erließ daraufhin in der Hauptverhandlung den angefochtenen Haft­befehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO. Der Angeklagte wurde daraufhin noch am 8. Mai 2017 in sei­nem Hotelzimmer festgenommen und tags darauf dem Haftrichter des nächsten Amtsgerichts vorgeführt, Der Angeklagte befindet sich seither ununterbrochen in Haft.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 16. Mai 2017, beim Landgericht am gleichen Tag einge­gangen, legte der Angeklagte gegen den Haftbefehl des Landgerichts vom 8. Mai 2017 Haftbeschwerde ein und beantragte die Aufhebung des Haftbefehls. Mit der Haftbeschwerde wurde eine den Angeklagten betreffende „Ärztliche Bescheinigung" des Dr. Heger, datiert auf den 8. Mai 2017, mit folgendem Wortlaut vorgelegt:

„Hier Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen Gerichtsvorladungstermin Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren,

o.g. Patient hat sich bei mir am Sonntag, den 07.05.2017, während meines Dienstes als bereitschaftsdiensthabender Arzt in der Bereitschaftspraxis in Itzehoe vorgestellt. Die Vor­stellung erfolgte wegen einer gastroenteritischen Durchfallserkrankung mit entzündlicher Be ­gleitarthritis.

Wegen dieser Erkrankung wurde eine Arbeitsunfähigkeit für die Woche bis zum 13.05.2017 ausgestellt.

Wegen dieser Erkrankung konnte der Patient auch den vorgesehenen Gerichtstermin am 08.05.2017 nicht wahrnehmen.

Diese Erkrankungen dauern in aller Regel 3 — 5 Tage, mitunter auch 6 oder 7 Tage und sind selbst limitierend."

Der Vorsitzende holte daraufhin am 16. Mai 2017 zur weiteren Aufklärung des Gesundheitszu­standes des Angeklagten Stellungnahmen der Polizeibeamten, die den Angeklagten am 8. Mai 2017 festgenommen hatten, ein. Nach den Angaben der Polizeibeamten war der Angeklagte am 8. Mai 2017 gewahrsamsfähig und machte nach deren persönlicher Einschätzung jedenfalls kei­nen erheblich kranken Eindruck. Des Weiteren hersuchte der Vorsitzende am 16. Mai 2017 bei Dr. H zur Untersuchung des Angeklagten und zu den vorgelegten Bescheinigungen schrift­lich um Auskunft. In einem Telefonat am 17. Mai 2017 äußerte Dr. H gegenüber dem Vorsit­zenden, dass er den Angeklagten am 8. Mai 2017 gar nicht gesehen habe und es an diesem Tag keine Untersuchung gegeben habe. Auf die weiteren schriftlichen Fragen des Vorsitzenden wurde von Dr. H mit Schreiben vom 18. Mai 2017 lediglich die Krankenkarteikarte des Angeklagten, aus der sich die Untersuchung und Diagnose am 7. Mai 2017 ergibt, übermittelt und schriftlich mitgeteilt, dass ,,alles mit berufsrechtlichen Dingen zugegangen" sei.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vorn 24. Mai 2017 stellte der Angeklagte wiederholt den Antrag, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise diesen außer Vollzug zu setzen.

Das Landgericht Ravensburg hat der Beschwerde mit Beschluss vorn 26. Mai 2017 nicht abge­holfen.

Die nach § 304 StPO zulässige Beschwerde gegen den Haftbefehl des Landgerichts Ravensburg vom 8. Mai 2017 hat in der Sache Erfolg.

Es kann offen bleiben, ob vorliegend der Erlass des Haftbefehls bereits deshalb unzulässig war, weil eine Verfahrenserledigung in Abwesenheit des Angeklagten möglich gewesen wäre, da diese gegenüber einer Verhaftung des Angeklagten vorrangig wäre (Meyer-Goßner. StPO, 60. Aufl. 2017, § 329 Rn. 45). Denn das Ausbleiben des Angeklagten ist jedenfalls genügend entschuldigt.

1. Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO ist, dass das Ausblei­ben des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht genügend entschuldigt ist. Für die Beurteilung dieser Frage kommt es nicht darauf an, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, son­dern ob sein Ausbleiben genügend entschuldigt ist. Maßgebend ist insoweit, ob ihm wegen seines Ausbleibens unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls billigerweise ein Vorwurf gemacht werden kann (Meyer-Goßner, aaO, § 230 Rn. 16 mwN). Im Falle einer Krankheit ist eine Ent­schuldigung dann genügend, wenn sie nach Art und Auswirkung eine Beteiligung an einer Haupt­verhandlung unzumutbar macht. Eine krankheitsbedingte Verhinderung liegt nicht erst dann vor, wenn eine Verhandlungsunfähigkeit begründet ist. In der Regel genügt zur Glaubhaftmachung der Krankheit die Vorlage eines privat-ärztlichen Attestes (Meyer-Goßner, aaO, § 329 Rn. 26 mwN).

Vor diesem Hintergrund ging das Landgericht zunächst zutreffend davon aus, dass die zuerst vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine ausreichende Entschuldigung darstellte. Auch ist das Landgericht aufgrund der konkreten Hinweise für einen Entschuldigungsgrund zunächst seiner Aufklärungspflicht nachgekommen und hat zum Gesundheitszustand des Angeklagten ei­gene Nachforschungen angestellt, die schließlich zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt haben.

Ob dem Angeklagten aufgrund einer Krankheit eine Beteiligung an einer Hauptverhandlung zu­mutbar ist, hängt jedoch nicht ausschließlich von einer objektiven Würdigung durch das Gericht ab. Es kann vielmehr auch das Vertrauen eines Angeklagten auf die entschuldigende Wirkung ei­ner privatärztlichen Attestes genügen (OLG München, Beschluss vom 22. Januar 2013 — 3 Ws 54113 — juris, dort Rn. 9 Meyer-Goßner, aaO, § 329 Rn. 26).

Dies zugrunde gelegt war der Angeklagte genügend entschuldigt. Denn mit dem Beschwerdeschriftsatz vom 16. Mai 2017 wurde die ärztliche Bescheinigung des Dr. H vom 8. Mai 2017 vorgelegt, welche beim Angeklagten eine am 7. Mai 2017 diagnostizierte und am Verhandlungstag fortbestehende Erkrankung (gastroenteritische Durchfallserkrankung mit entzündlicher Begleitar­thritis) attestierte. Maßgeblich ist insoweit insbesondere, dass die ärztliche Untersuchung des An­geklagten nur einen Tag vor der Hauptverhandlung erfolgte, die ärztliche Bescheinigung eine ein­deutige Diagnose ausweist sowie eine Aussage zur Erkrankung hinsichtlich des Termins der Hauptverhandlung trifft. Der Angeklagte konnte demnach aufgrund der vorgelegten Arbeitsunfähig­keitsbescheinigung und seiner diesbezüglichen Mitteilung sowie der (später vorgelegten) ärztli­chen Bescheinigung davon ausgehen, genügend entschuldigt zu sein. Denn bestätigt ein ärztli­ches Attest, dass ein Angeklagter nicht erscheinen kann, so muss dies so lange als genügende Entschuldigung gelten, als nicht die Unglaubwürdigkeit des Attestes feststeht. Daran fehlt es hier. Zwar hat das Landgericht aufgrund seiner Nachforschungen sowohl Zweifel an der Richtigkeit der ärztlichen Bescheinigung vom 8, Mai 2017 als auch an der Erheblichkeit der Erkrankung. Den Nachweis, dass die attestierte Arbeitsunfähigkeit sowie die ärztlichen Bescheinigung erwiesener­maßen unrichtig sind oder es sich insoweit um (selbst intendierte) „Gefälligkeitsatteste" handelt, haben die Nachforschungen des Landgerichts indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit er­bracht. Insbesondere liegt kein (amtsärztliches) Attest, welches die Diagnose der dem Landge­richt bereits vorgelegten Bescheinigungen widerlegt und eindeutig Verhandlungsfähigkeit beschei­nigt, vor. Aufgrund der Tatsache, dass Dr. H den Angeklagten am 8. Mai 2017 nicht gesehen hat, ergibt sich jedenfalls nicht zwingend die Unrichtigkeit der ärztlichen Bescheinigung. Denn in der Bescheinigung wird ausdrücklich auf die die ärztliche Untersuchung des Angeklagten am 7. Mai 2017 Bezug genommen und auf die regelmäßige Dauer der Erkrankung (drei bis fünf Tage) abgestellt. Aufgrund der Erkrankung des Angeklagten am 7. Mai 2017 war diesem der Antritt einer längeren Reise am Vortag des Hauptverhandlungstermins jedenfalls nicht zumutbar. Bleiben nicht behebbare Zweifel am Vorliegen eines unentschuldigten Ausbleibens darf sich dies aber nicht zulasten des Angeklagten auswirken bzw. darf ein in die Freiheit eingreifendes Zwangsmittel nicht angeordnet werden bzw. aufrechterhalten bleiben.

Da das Ausbleiben des Angeklagten aufgrund der Vorlage der ärztlichen Bescheinigung vom 8. Mai 2017 jedenfalls nachträglich genügend entschuldigt ist, ist der Haftbefehl aufzuheben.

2. Unabhängig von der Frage der genügenden Entschuldigung verstößt der Haftbefehl des Land­gerichts Ravensburg auch ersichtlich gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Denn selbst wenn man vorliegend die Voraussetzungen für den Erlass bzw. die Aufrechterhal­tung eines Sicherungshaftbefehls unterstellen würde, wäre zu beachten gewesen, dass auch für diesen der für die Untersuchungshaft entwickelte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt. Ein Ein­griff in die persönliche Freiheit kann somit nur hingenommen werden, wenn und soweit der legiti­me Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und auf rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssiche­rung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren. Als Mittel, die Anwesenheit des Angeklagten in einem neuen Verhandlungstermin sicherzustellen, kommt deshalb in erster Linie die Anordnung der Vorführung in Betracht Erst in zweiter Linie kann der stärker in die per­sönliche Freiheit eingreifende Haftbefehl in Frage kommen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt wäre, dass der Angeklagte zum (näch­sten) Hauptverhandlungstermin freiwillig erscheinen wird oder erfolgreich vorgeführt werden kann. Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Aus­nahmefällen verhältnismäßig; ein solcher Fall liegt etwa dann vor, wenn feststeht, dass der Ange­klagte auf keinen Fall erscheinen will (KG Berlin, Beschluss vom 19. Juli 2016 — 4 Ws 104/16 — ju­ris, dort Rn. 15 f. mwN).

Vor diesem Hintergrund erschließt sich hier nicht, weshalb es erforderlich war, den Angeklagten unmittelbar am 8. Mai 2017 in Haft zu nehmen. So lagen Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklag­te auf keinen Fall auch beim Fortsetzungstermin am 29. Mai 2017 erscheinen wird, nicht vor. Vielmehr hatte sich der Angeklagte in erster Instanz dem Verfahren gestellt. Dass sich der Ange­klagte am 8. Mai 2017 in Itzehoe aufhielt und nicht vorgeführt werden konnte, war seiner berufli­chen Tätigkeit geschuldet; der Angeklagte ist ausgebildeter Aniagenmechaniker und war auf Mon­tageeinsatz. Der Angeklagte hat seinen Wohnsitz jedoch nach wie vor in Eberhardzell-Oberes­sendorf und somit im Bezirk des Landgerichts; dass sich der Angeklagte für längere Zeit bzw. dauerhaft im Raum Itzehoe aufhält oder zum anberaumten Fortsetzungstermin auswärtig aufhält und deshalb nicht vorgeführt werden kann, ist demgegenüber nicht ersichtlich. Auch die Umstän­de, dass er sich über seinen Verteidiger am 8. Mai 2017 krankheitsbedingt entschuldigten ließ, für das Landgericht telefonisch erreichbar war und sein Hotelzimmer auch nach dem ersten Aufsu­chen durch die örtliche Polizei nicht verließ, sprechen gegen die Annahme, der Angeklagte habe sich dem Verfahren entziehen wollen. Demnach hätten zur Sicherstellung der Anwesenheit des Angeklagten in einem neuen Verhandlungstermin zunächst ersichtlich weniger einschneidende Mittel als der Erlass und die anschließende Vollstreckung eines Haftbefehls ausgereicht.

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